Selbsterkenntnis beginnt oft mit kleinen Beobachtungen – wie unserem Verhalten, wenn wir allein zu Hause sind, oder unseren Reaktionen auf alltägliche Situationen. Doch was können uns diese Momente über uns selbst und unseren Platz in der Welt sagen? Dieser Blogbeitrag findet Antworten in kalten Ravioli, heissem Kamillen-Kaffee und anderen Schlampereien.
Treffpunkt um 12,3 °C
Der Thermometer löst das Chronometer ab.
Die Uhr ist ihrer festen Überzeugung, sie sei die Dirigentin.
Wie wäre es, wenn wir diese Rolle einem anderen übergeben?
Etwa dem Thermometer.
Das wäre faszinierend, jeder hätte ein Thermometer am Arm.
Treffpunkt morgen um 12.3 Grad Celsius Aussentemperatur.
Was, wenn die Temperatur an dem Tag nur bis 11 Grad steigt?
Wäre unwahrscheinlich, es verabredet sich auch niemand um 26:37 Uhr.
Wir hätten eine ausgeprägte Sensitivität für das Klima.
Welch ein frohlockender dynamischer Gedanken.

Kalte Ravioli
Wenn ich allein zu Hause bin, verhalte ich mich anders.
Wenn ich allein zu Hause bin, stehe ich in Unterhose in der Küche.
Dann flatuliere ich nicht, sondern furze einfach mal.
Uns sage zu mir selbst: Gut gemacht. Soeben dem Doktor einen Fünfliber gestohlen.
Wenn ich allein zu Hause bin, fresse ich eine ganze Tafel Schokolade.
Ich spiele mit ehrlosen Gedanken.
Und esse kalte Ravioli vor dem Fernseher.
Wenn ich allein zu Hause bin, überkommt mich der Drang, aufzuräumen.
Dann wische ich feucht auf, auch in den Ecken.
Ich fühle mich befreit. Keine soziale Kontrolle.
Ich kann mich gehen lassen.
Wenn ich allein zu Hause bin, frage ich mich, wie es wäre, wenn ich nicht allein zu Hause wäre.
Wenn ich allein zu Hause bin, bin ich wachsam. Es könnte jederzeit jemand unverhofft zur Tür hereinkommen.
Wenn ich allein zu Hause bin, verwische ich alle Spuren, bevor die anderen zurück sind.
Es kann einengen, allein zu Hause zu sein.
Umblättern
Ich beobachtete etwas Besonderes. In vielerlei Hinsicht.
Eine Person hat in der Bahn Papier-Zeitung gelesen.
Als wäre das nicht schon genug.
Sie hat vor jedem umblättern den rechten Zeigefinger geleckt.
Der Zeigefinger der Umblätter-Hand.
Was ist wohl die Funktion?
Liest sich die Zeitung so zuckersüss?
Körperpflege? Bei Katzen sieht man ähnliche Gestiken.
War es die perfekte Umblätter-Technik?
Oder gar ein intergalaktisches Zeichen?
Dann stieg die Person aus. Sie liess die Zeitung liegen.
Wie nett, dass noch eine andere Person darin blättern kann.
Selbsterkenntnis kennt keine Grenzen: Menschenfresser
Es kommt nichts.
Aushalten.
Es kommt immer noch nichts.
Ich werde schläfrig.
Die Müdigkeit zwingt mich langsam in die Verbeugung.
Mein Kopf nähert sich dem Bildschirm.
In den klassischen ruckartigen Bewegungen eines Schläfrigen.
Auch beim näheren heranrücken erscheint weiter nichts auf diesem weissen Blatt.
Ich habe gehört, elektronische Geräte gelten nicht nur als Zeitfresser, sondern auch als Menschenfresser.
Komme ich zu nahe und verweile zu lange, dann falle ich hinein.
Verschwunden.
Nie wieder gesehen.
Verschlungen von der Matrix, neu geformt und in eine endlose Zahlenreihe eingereiht.
Wie sich das wohl anfühlt?
Von Dauerwellen und Eierkochern
Ich fantasiere manchmal, etwas zu tun, was ich nicht tun kann.
Wie ist es wohl, sich eine Dauerwelle zu legen?
Erst mal melde ich mich bei der Chefin für morgen ab.
Warum will die wissen.
Da lege ich mir eine Dauerwelle.
Ich suche mir ein freies Plätzchen auf einem klebrigen Ledersessel.
Möchten Sie einen Kaffee, Tee oder etwas zum Lesen?
Nein, ich möchte eine Dauerwelle.
Haben sie Zeit? Diese Welle legen dauert.
Wir besprechen das Wetter von gestern, das Wetter von heute und das Wetter von morgen.
Viel Dampf wird geplaudert.
Der futuristische Helm kommt.
Eine Art Eierkocher denke ich mir noch und schlafe ein.
Schlamperei
Multitasking sei modern für Schlamperei.
Also ein Unwort.
Der Computer macht vor und wir watscheln hinterher und machen nach.
Wie im Kinderland.
Rechtsseitig ein Telefon dranhalten.
Mit nervösen Augen vorn rausglotzen.
Parallel hastig ein Hotdog reinstopfen.
So viel zur Frage, wofür der Kopf erfunden wurde.
Auch Paarbeziehungen leiden unter Multitasking.
Womit wir wiederum bei Schlamperei wären.
Anpacken und durchziehen
Ich habe dieses mulmige Gefühl in mir.
Es macht sich besonders im Bauch und Hals bemerkbar.
Leichte Übelkeit, gemischt mit Schwere.
Meine Gedanken wandern umher.
Bestimmte Themen verstärken das Gefühl.
Ich versuche, diese Themen zu meiden.
Das ist nicht zielführend.
Besser das Gefühl willkommen heissen.
Mit Liebe anstrahlen.
Mein Thema sind die vernachlässigten Projekte.
Gitarre. Klavier. Italienisch.
Zu schwierig für mich.
Gescheitert.
Anpacken und durchziehen habe ich gelernt.
Wenn ich nicht dranbleibe, verliere ich alles Gelernte wieder.
Ich hocke ans Kinder-Keyboard – Für das Gewissen.

Experiment Selbsterkenntnis: Bitte Ruhe.
Steht an der Tür.
Neugierde durchflutet mich.
Ich verlangsame den Schritt.
Gehe weiter auf leisen Sohlen.
Ich spüre das Verlangen, die Tür zu öffnen.
Ich verwerfe den Gedanken.
Die Tür könnte quietschen.
Ich bleibe still.
Wie befohlen.
Nichts falsch machen.
Ich überlege, was für ein Experiment es ist.
Und warum ich nichts davon weiss.
Vielleicht ist das Experiment nicht hinter der Tür, sondern vor der Tür.
Bin ich das Experiment?
Ich fühle mich plötzlich beobachtet.
Ich gehe lässig weiter.
Als wäre nichts gewesen.
Kamillen-Kaffe
Nach jeder Tasse Kaffee schmeichelt mir eine leichte depressive Episode.
Liegt es am Kaffee oder an der Tasse?
Hat mich die Tasse im Griff?
Oder schmeichelt so der Kaffee?
Sind es bewusst eingesetzte, manipulative Schmeicheleien?
Sind sie nur ein Nebenprodukt?
Was ist mit dem Wasser?
Nein, dem vertraue ich. Übrigens, auch der Milch.
Wir neigen dazu, das Problem bei allem anderen zu sehen.
Vielleicht trinke ich mit unpassender Technik.
Muss man den Kaffee durch die Zähne ziehen?
Gurgeln.
Nicht schlucken, nur spülen und ausspucken.
Was ist mit dem Kaffee-Organ.
Bin ich ohne geboren?
Vielleicht wäre Kamillentee besser.
Der wird empfohlen, wenn man krank ist.
Eine Tasse, halb Kamille, halb Kaffee, schön durchziehen lassen.
Das bekommt bestimmt.
Präferenzschreiben
Man bat mich um ein sogenanntes «Präferenzschreiben».
Mir kam ein Liebesbrief in den Sinn.
Aus der Grundschule.
Einer zum Ankreuzen: Ja, nein, vielleicht.
Auf A4 Briefpapier mit Schnörkel-Verzierung den Rändern entlang.
Mit einem Hauch von süssem Duft.
Mit feinster Handschrift ins Reine geschrieben.
Eine auserlesene Briefmarke auf dem Umschlag.
Mir kommt eine klitzekleine Träne vor Gefühlsseligkeit.
Durch die Kellertür in die Küche
Wenn ich zur Wohnungstüre hinaustrete, stehe ich auf dem Dach.
Wenn ich durch die Dachluke hineinklettere, knie ich auf dem Kellerboden.
Wenn ich durch die Kellertüre gehe, stehe ich in der Küche.
Wenn ich die Kühlschranktüre hinter mir schliesse, stehe ich unter der Dusche.
Seit wann ist nichts mehr, wie es war?
Selbsterkenntnis ohne Ende: Die Erfindung vom Ende
Am Anfang war es Anfang.
Genauer war am Anfang kein Anfang, sondern ein Einfang.
Dies gelang aber nicht.
So war der Anfang beleidigt und er wurde Zwischendurch.
Weitere Wellen wurden umrundet.
Und ein weiteres Zwischendurch verging.
Woraufhin sich das Leer aufbequemte.
Vor lauter Anstrengung verlor es das zweite e.
Ler fühlte sich schwach.
Es jammerte ein Liebeslied.
Verknallt blähte sich die Fülle auf.
So wuchs bald, quicklebendig, das erste Happy-Ende heran.